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Stefan Willeke / Henning Sußebach „Man muss härter sein

Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.

Man muss härter sein als ich“


Sebastian Deisler war ein Jahrhunderttalent des deutschen Fußballs, doch schon mit 27 Jahren beendete er seine Karriere. Er litt unter schweren Depressionen. Jetzt spricht er darüber, wie das Fußballgeschäft ihn krank machte – und warum er bis heute nicht mit den Kollegen vom FC Bayern redet.


Von Henning Sußebach und Stefan Willeke, Zeit, 01.10.2009


Wie aus dem Nichts ist er gekommen, der Mann, der fast drei Jahre lang aus der Öffentlichkeit verschwunden war. Plötzlich steht Sebastian Deisler im Hotelfoyer, zurückgekehrt in eine Welt, die früher einmal seine war: Hier, im Fünfsternehotel Colombi in Freiburg, hat die deutsche Fußballnationalelf hin und wieder übernachtet – jene Mannschaft, die Deisler als Spielmacher durch die Weltmeisterschaften 2002, 2006 und 2010 hätte führen sollen. Doch Deislers Laufbahn blieb eine Karriere im Konjunktiv: Sieben Mal an Knie und Leiste operiert, wegen Depressionen behandelt, gab er den Fußball Anfang 2007 auf. Er konnte nicht mehr. Und tauchte unter.


Jetzt ist Sebastian Deisler zurück, 29 Jahre alt, die Hände in den Taschen seiner Jeans, dunkler Pullover, dunkles Jackett, die Haare kurz geschoren, ums Kinn ein kleiner Bart. Sein Gesicht ist voller geworden, der Bauch hat einen Ansatz bekommen. Hotelgäste mustern ihn verstohlen, aber Deisler sieht nicht hin. Er sucht einen Tisch, etwas abseits. Jahrelang hat er nicht öffentlich gesprochen, der Mann, den die Experten in einem Atemzug mit Netzer, Beckham und Zidane nannten, ein Jahrhunderttalent. Kein anderer ist so rätselhaft gescheitert und hat so viele Fragen hinterlassen. Kein anderer bot so viel Gesprächsstoff und hat selbst so konsequent geschwiegen. Ein Journalist hat mit Deisler nun dessen Biografie geschrieben (Michael Rosentritt: Sebastian Deisler. Zurück ins Leben , Edel-Verlag). »Ich wollte mich endlich einmal selbst erklären«, sagt er.


Es ist ein sonniger Herbsttag Ende September, halb eins am Mittag. Vor dem Hotel plätschert kurparkheiter ein Springbrunnen. Sebastian Deisler hat endlich einen Tisch gefunden, an dem er seine Geschichte erzählen kann. Es ist die Geschichte eines Helden, der nicht zum Helden taugte.


DIE ZEIT: Herr Deisler, Sie waren jahrelang verschwunden. Wo kommen Sie jetzt her?


Sebastian Deisler: Aus Lörrach, meiner Heimatstadt. Ich bin vor zwei Monaten aus Berlin dorthin zurückgezogen, um neu anzufangen. Alles, was mir seit dem Beginn meiner Karriere gefehlt hat, sind doch Wurzeln. Für die anderen war ich ein Star – aber ich habe mich gefühlt wie eine Glühbirne, die einsam von der Decke hängt. Nackt. Für jeden sichtbar. Unter mir war nichts.


ZEIT: Und jetzt wollen Sie sich Ihre verlorene Jugend zurückholen?


Deisler: Nichts werde ich nachholen können. Aber in Lörrach fühle ich mich wohl. Die Stadt ist klein. Meine Mutter wohnt dort, mein Vater. Ich habe meine Eltern wieder, obwohl sie inzwischen getrennt leben. Ich habe eine Wohnung, aus der ich auf meinen Hausberg schauen kann, den Tüllinger Berg. Ein Bild aus meiner Kindheit.


ZEIT: Gibt Ihnen das Halt?


Deisler: Ja, schließlich ist es meine Heimat. Ich war in der letzten Zeit damit beschäftigt, mich vom Fußball zu lösen. Ich weiß ja: Ich werde nie mehr etwas so gut können. Das ist mir schwergefallen, das ist ja kein Geheimnis, meine Depression. Aber ich habe mich trocken geweint.


ZEIT: Warum jetzt ein Buch, wo Sie doch die Öffentlichkeit scheuen?


Deisler: Nicht scheuen, meiden! Und das Buch ist eigentlich ein Buch für mich. Komisch, was? Normalerweise werden Bücher ja für Leser geschrieben. Dieses hier ist zuerst einmal für mich. Nennen Sie es ruhig Teil einer Therapie. Die Arbeit am Buch hat mich viel Kraft gekostet, meine Geschichte ist ja nicht die leichteste und schönste. Die Vergangenheit war wie Brei in meinem Kopf. Das musste raus. Geordnet werden. Ohne dieses Buch hätte ich nicht weitermachen können. Und wenn jemand etwas daraus mitnehmen kann, umso besser.


ZEIT: Welches Kapitel ist Ihnen am wichtigsten?


Deisler: Die Jahre in Berlin, bei Hertha BSC. Damit die Menschen verstehen, was das für ein Wahnsinn war, den sie um mich veranstaltet haben. Sie haben sich zwar Tag für Tag Gedanken über mich gemacht. Aber sie haben mich nie gefragt, wie es mir damit ging.


ZEIT: Dann richtet sich das Buch doch nicht allein an Sie.


Deisler: Es ist so viel über mich geschrieben worden, da musste ich auch mal was sagen. Aber ich kehre damit nicht in die Öffentlichkeit zurück. Es ist mein Abschlussbericht.


ZEIT: Was sollen die Leser erfahren?


Deisler: Ich bin vielleicht empfindsam, aber nicht empfindlich, schon gar nicht schwach, wie viele denken. Ich, schwach? Ich war 19, 20, als die Deutschen meinten, ich könnte ihren Fußball retten. Ich allein. Heute gibt es fünf, sechs Spieler, auf die sich alle Hoffnungen verteilen und die Aufmerksamkeit der Medien. Damals? Gab es noch Michael Ballack, aber der war vier Jahre älter und spielte im idyllischen Kaiserslautern. Mir wurde keine Zeit gelassen. Das sollen die Leute jetzt alles erfahren, vom Anfang bis zum Ende.


Sätze sind das, die klingen, als habe Deisler sie zigmal in seinem Kopf gewendet. Er will sie loswerden, sofort. Man muss seine Geschichte wohl noch einmal von vorne erzählen: Sebastian Deisler wird am 5. Januar 1980 in Lörrach geboren, der Vater ist Elektriker, die Mutter Hausfrau. Mit zwei Jahren bekommt der Sohn den ersten Fußball geschenkt. Als er fünf ist, meldet der Vater ihn im Fußballklub an. In allen Jugendmannschaften ist Sebastian Deisler der Kleinste und Schmächtigste, aber auch der Beste. In einer D-Jugend-Saison schießt er 215 Tore, schnell wird er zu einer regionalen Berühmtheit. Zu Auswärtsspielen bringt der Vater ihn nicht mit dem Auto, stattdessen radelt er mit dem Sohn kilometerweit durch den Schwarzwald – damit zum Anpfiff dessen Muskeln warm sind.


»Irgendwann wird er in einem Atemzug mit Walter, Seeler und Beckenbauer genannt werden«


Friedel Rausch, Deislers damaliger Trainer, 1999


»Ein Juwel. Deisler setzt spielerische Akzente und geht über die Schmerzgrenze hinaus. Solche Spieler brauchen wir«


Erich Ribbeck, Bundestrainer, 1999


Mit 15 Jahren wird Deisler in die Jugendnationalmannschaft berufen und wechselt ins Jugendinternat von Borussia Mönchengladbach. Doch schnell beschäftigen ihn neben dem Fußball andere Fragen: Deisler hat unbändiges Heimweh, und in Lörrach kriselt die Ehe seiner Eltern. Von seinem ersten Profigehalt kauft er ihnen eine Eigentumswohnung – ein Versuch, die Beziehung zu retten.


1997 wird Deisler bei der U-17-Weltmeisterschaft in Ägypten zum zweitbesten Spieler des Turniers gewählt, knapp hinter dem Brasilianer Ronaldinho. Ein Jahr später bestreitet er sein erstes Bundesligaspiel für Borussia Mönchengladbach. Und am 6. März 1999 folgt der Tag, der sein Leben verändern wird: Im Spiel gegen 1860 München fällt ihm tief im Mittelfeld der Ball vor die Füße. Deisler startet ein Solo über 60 Meter und schießt den Ball ins Netz. Für den Teenager ist es sein erstes Bundesligator – für die Fans eine Art Erlösung, die tagelang im Fernsehen zu bestaunen ist. So ein Treffer war in Deutschland lange nicht mehr zu sehen. Die Süddeutsche Zeitung meldet: »Der Ball schlug an derselben Stelle ein wie Netzers 2:1 im Pokalfinale gegen Köln 1973.«


Im März 1999 heißen die Nationalspieler nicht Netzer oder Seeler, sondern Jeremies und Jancker. Franz Beckenbauer nennt sie »Rumpelfüßler«. Die Nationalelf spielt erfolglos, Deisler wird zur Projektionsfläche für viele enttäuschte Hoffnungen. 26 Vereine aus ganz Europa bieten um ihn, darunter der FC Barcelona, Real Madrid und der AC Mailand. In einem seiner ersten Interviews sagt Deisler: »Manchmal kann einem das Angst machen.«


Als Borussia Mönchengladbach im Sommer absteigt, wechselt Deisler nach Berlin zu Hertha BSC. Die Boulevardblätter begrüßen Deisler als »Basti Fantasti«, zum Saisonauftakt kommen 66.000 Menschen ins Olympiastadion. In den ersten Spielen schießt er wunderschöne Tore. Nike, der Ausrüster der Berliner, plant eine große Kampagne mit Deisler. Der Marketingdirektor spricht von einem »upcoming shining star«. Er sucht nach Ecken und Kanten in Deislers Wesen, der Junge dürfe in der geplanten aggressiven Werbeoffensive keinesfalls als »streamline boy« rüberkommen.


Deisler ist damals 19 Jahre alt.


ZEIT: Herr Deisler, jetzt, da man das Ende Ihres Weges kennt: Waren Sie am Anfang gar nicht stolz, als diese öffentliche Liebe über Sie hereinbrach?


Deisler: Doch, natürlich. Das hat mein Ego gestreichelt. Ich habe mich gefreut, wenn die Leute im Stadion sich gefreut haben. Es hat mir geschmeichelt, dass so viele Kinder mit Trikots mit meinem Namen drauf durch die Stadt liefen. Sogar Erwachsene! Und ich wollte den Erwartungen gerecht werden. Auch meinen eigenen. Ich habe während der Spiele weiterhin die Freude am Fußball gespürt, die ich als Kind empfunden hatte. Die Freude über einen gelungenen Pass. Mich in ein Spiel hineinzufühlen. Es zu gestalten wie ein Künstler. Es gab für mich Momente, in denen sich Fußballspielen anfühlte wie Tanzen.


ZEIT: Hatte das Idol Deisler damals selber ein Idol?


Deisler: Zinédine Zidane. Der war gerade mit Frankreich Weltmeister geworden. Ich habe ihn bewundert, weil er Körperlichkeit und Kunst im Fußball verbunden hat. Das ist mir auch gelungen, am Anfang. Zidane war ein Künstler, er hat nie den Hampelmann gemacht. Auch er ist introvertiert. Leider habe ich ihn nie kennengelernt. Zidane konnte tanzen und zugleich robust sein. Das war auch mein Traum.


ZEIT: Tanzen und zugleich robust sein – warum ist Ihnen das nicht gelungen?


Deisler: Ich war irritiert von dem Drumherum, überfordert. Als ich sah, was in Berlin meinetwegen veranstaltet wurde, habe ich versucht, auf Halligalli zu machen und so zu leben wie die meisten Fußballprofis. Ich habe mir schicke Uhren gekauft, teure Brillen, Klamotten wie sie. Wir sind abends die Läden abgefahren, Frauen haben wir natürlich auch kennengelernt, das ist nicht schwer als bekannter Spieler. Ich habe mitgemacht, ich habe mitgelacht und dabei bemerkt, dass ich nicht froh war. Jeder wollte was von mir wissen, jeden Blödsinn, wo ich meine Jeans kaufe, nach welchem Parfüm ich gerade rieche, mit welchen Gefühlen ich an den Mauerfall zurückdenke. Als die Mauer fiel, war ich neun…


»Er beherrscht als Fußballer Dinge, die kann kein anderer in Deutschland. Aber er will nur trainieren, spielen und ab nach Hause. Beim FC Bayern ist das nicht genug«


Karl-Heinz Rummenigge, Vorstandschef des FC Bayern München, 2003 vor Deislers Erkrankung


»Einer, der sich verkriecht und sich über seine Wehwehchen beklagt«


Franz Beckenbauer, Präsident des FC Bayern, 2003 während einer Verletzungspause Deislers


ZEIT: Was ist so schlimm daran, wenn jemand nach Ihrem Parfüm fragt?


Deisler: Ich wollte Fußball spielen, über Fußball sprechen. Aber plötzlich wurde alles wie mit Scheinwerfern ausgeleuchtet, hatte der Fußball so viele Nebenwirkungen. Mein Leben wurde vereinnahmt. Ich habe manchmal im Bett gelegen und gebetet: »Lieber Gott, ich schaff das nicht.« Ich habe sogar mein Talent verflucht. Ich war zu gut, um nicht aufzufallen. Ist das ein verrückter Gedanke?


ZEIT: Ein trauriger.


Deisler: Es war ein bisschen so, als sei ich auf eine ewige Klassenfahrt geraten. Da gibt es doch auch immer die Lauten, die Bestimmer – und die, die lieber um neun im Bett wären, aber bei der Kraftmeierei mitspielen, um nicht ausgelacht zu werden. So habe ich mich gefühlt. Ich wollte auch hart sein, grob sein. Das steht auch so im Buch: Abends habe ich in meiner Wohnung gesessen, jeder da draußen kannte mich, ich war fußballerisch ganz oben, vor der Tür stand ein dickes Auto, aber nichts davon hat mich glücklich gemacht. Ich habe mich gefragt: Und das soll jetzt das Ziel sein? Ich war todtraurig. Ich habe gegen meine Natur gelebt.


ZEIT: Wie ist denn Ihre Natur?


Deisler: Wenn die anderen im Mannschaftsbus Karten gespielt haben, habe ich aus dem Fenster geschaut. Ich bin mit der U-15-Nationalmannschaft einmal nach Griechenland geflogen, die erste weite Reise, die der Fußball mir ermöglicht hat. Wie habe ich mich gefreut: Griechenland! Ich habe mir vorher Fotos angeschaut, mich da hineingeträumt. Als wir dann da waren, habe ich aus dem Bus ständig die Zitronenbäume angeschaut. Zitronenbäume in freier Natur, nicht im Gewächshaus!


ZEIT: Und die anderen haben gepokert?


Deisler: Ja. Aber ich will den anderen nicht vorwerfen, dass sie keine Zitronenbäume sehen. Man muss hart sein in diesem Geschäft, rigoros, zugreifend. Ich habe zu lange geglaubt, ich könnte fehlende Härte wettmachen durch besseren Fußball.


ZEIT: Als Herthas Ausrüster Nike Sie bat, in weißen Schuhen zu spielen, haben Sie abgelehnt.


Deisler: Ich hatte damals das Gefühl, schon genug vor den Karren gespannt zu sein. Ich bin kein Entertainer. Und mir gefiel damals schon nicht, wie Nike den Fußball präsentiert hat. Fußball ist für mich keine finstere Schlacht, kein Krieg. Fußball ist doch etwas, das Freude bringen soll, oder?


ZEIT: Es ging doch nur um ein Paar Schuhe.


Deisler: Aber ich hatte wohl schon begonnen, Aggressionen aufzubauen, gegen mich und mein Umfeld. Können Sie das nicht verstehen? Es ist aus allem etwas konstruiert worden. Mit den Frauen zum Beispiel. Mir war bald klar: Ich wollte meine Frau nicht auf einem Bankett kennenlernen, wo jeder weiß, wer ich bin. Ich habe nach etwas anderem gesucht. Dann kamen die ersten Journalisten: Basti, warum hast du keine Freundin? Basti, was ist denn mit dir los? Zwischenzeitlich galt ich ja schon als schwul. Wenn man sich einige dieser Journalisten genau anschaut, sagt man sich: Das ist ja ein Wahnsinn, dass die alles über mich schreiben dürfen! Diese Oberflächenschwimmer! Einige von denen haben keine Ahnung, kein Gewissen, aber die Macht, für Millionen Menschen ein Bild von mir zu zeichnen. Und wenn man dieses Spiel nicht mitspielt, wenn man ihren Ansprüchen nicht folgt, ist man derjenige, der als nicht normal gilt. Heute frage ich mich, ob das System, das ich verlassen habe, vielleicht kranker ist, als ich es war.


ZEIT: Haben Sie da schon überlegt umzukehren?


Deisler: Wohin denn? Zurück nach Mönchengladbach? Nach Lörrach? In mein zerfallendes Elternhaus? Ich habe versucht, die Probleme auf dem Fußballplatz zu lösen. Das hätte mir gereicht: ein gutes Spiel und zufriedene Menschen. Den ruhigen Weg gehen können, das habe ich mir damals gewünscht. Aber ich konnte ja schlecht Profifußballer sein ohne Profifußball.


ZEIT: Was dann?


Deisler: Ich hatte gehofft, dass man mir ein bisschen hilft. Aber Hertha BSC, das muss ich ehrlich sagen, war als Verein so unfertig wie ich als Spieler. Die waren froh, mich ins Schaufenster stellen zu können. So funktioniert das. Ich bin unglücklich geworden, als ich versucht habe, andere glücklich zu machen. Ich fühlte mich wie ein trauriger Clown.


Ein gesunder Mensch, der hört, wie Deisler sich heute an seine Karriere erinnert, wird manchmal Schwierigkeiten haben, Verständnis zu empfinden. Spricht da nicht ein begabter, junger Mann, der in wenigen Jahren sehr viel Geld verdient hat? Es ist einem Gesunden schwer zu vermitteln, wie ein Depressiver die Welt erlebt. Wie unsicher er sich selbst im Erfolgsfall fühlt, wie groß der selbst gemachte Leistungsdruck ist, wie viele Feinde er plötzlich sieht. Tragisch daran ist, dass auch enge Freunde diese Schwarzmalerei des Kranken, sein ständiges Um-sich-selbst-Kreisen nicht lange aushalten. Damit zerreißt das soziale Netz, das als Hilfe wichtig wäre.


Schätzungen zufolge durchlebt jeder achte Mensch in Deutschland mindestens einmal in seinem Leben eine Depression. Mediziner sind sich einig darin, dass die Krankheit durch ein komplexes Zusammenspiel von Körper, Seele und Umwelt entstehen kann, durch Anlage und äußere Einflüsse, oft durch frühkindliche Prägung, häufig durch Phasen der Überforderung, in denen der Patient sich als dauerhaft hilflos erlebt. Öffentlicher Druck kann ein Auslöser sein. Das Gefühl, die Kontrolle über sein Ich zu verlieren, ist keine Einbildung. Hormonhaushalt, Hirnstoffwechsel und Herzfunktion ändern sich tatsächlich. Diese Veränderung kann durch ein »Reiß dich zusammen!« nicht behoben werden. Auffallend häufig erkranken sensible, hochbegabte Menschen, oft Prominente wie der Popmusiker Robbie Williams oder der Schriftsteller David Foster Wallace.


»Eines der größten Verlustgeschäfte des FC Bayern«


Edmund Stoiber, Bayern-Verwaltungsbeirat, 2003, als Deislers Depression bekannt wurde


»Es war eben etwas viel, was für seine 23 Jahre auf Sebastian in den letzten Jahren eingeströmt ist«


Prof. Florian Holsboer, behandelnder Arzt, 2003 über Deislers Depression


Im Herbst 1999 – vier Jahre bevor er die Diagnose erhält – erleidet Sebastian Deisler binnen Wochen einen Muskelfaserriss, eine Adduktorenzerrung, eine Innenbanddehnung, einen Meniskusschaden. Er lässt sich an einem Tag alle vier Weisheitszähne ziehen, um auszuschließen, dass seine Probleme von dorther rühren. Im Februar 2000 spielt er zum ersten Mal in der Nationalelf. Bald wird er deren Spielmacher; Michael Ballack wird manchmal erst eingewechselt, wenn Deisler aus dem Spiel geht. Deisler findet eine Freundin, eine Brasilianerin namens Eunice, sie ist Buchhändlerin. Im Sommer 2001 entscheidet er sich, nur noch ein Jahr für Hertha BSC zu spielen und mit Ende seines Vertrages zum FC Bayern München zu wechseln. Bayern ist sein Traumverein – und Deisler hofft, zwischen all den Stars nicht mehr aufzufallen. Der Trainer dort ist Ottmar Hitzfeld, ein Lörracher, Schulkamerad seines Vaters. Deisler unterrichtet Herthas Manager Dieter Hoeneß sofort von seiner Entscheidung; er will auch die Fans informieren. Hoeneß bittet ihn, bis zum Winter Stillschweigen zu bewahren, um Unruhe im Verein zu verhindern.


Am 13. Oktober 2001 wird der Wechsel auf aufsehenerregende Weise publik – durch die Indiskretion einer Bank: Die Bild- Zeitung druckt auf ihrer ersten Seite ein Scheckeinreichungsformular mit Deislers Namen ab, darunter die Zahl 20.000.000. Zwanzig Millionen Mark vorab hat Deisler für seine Zusage an den FC Bayern erhalten. Bild fragt: Millionen-Deisler – werden ihm heute die Beine schwer? Der Verein gibt sich überrascht, in den Internet-Fanforen kocht der Hass, Dieter Hoeneß schweigt. Am Tag der Veröffentlichung läuft Deisler gegen den Hamburger SV auf. In der 67. Minute prallt er mit einem Gegenspieler zusammen und erleidet die nächste schwere Verletzung: Kapselriss im rechten Knie. Er fällt für fünf Monate aus. Während Deisler in den USA operiert wird, fällt die Berliner Öffentlichkeit ihr Urteil über ihn.


Die Geschichte liegt acht Jahre zurück, doch jetzt, in diesem Hotel in Freiburg, bebt Deisler noch immer. So sehr, so laut, dass sich die Gäste nach ihm umdrehen.


Deisler: Wissen Sie, wie das ist?


ZEIT: Sie wurden erst von Zuneigung erdrückt und dann von Abscheu erschlagen. Aber ergeht es manchen Stars nicht ähnlich?


DEISLER: Sie wissen nicht, wie das ist. Erst geliebt und dann über Nacht gehasst zu werden. Ich konnte mich nicht mal wehren. Ich war verletzt, war weg, konnte keine Antworten geben. Und der Verein forderte eine Entschuldigung von mir. Dafür, dass ich die Fans nicht früher informiert hätte! Dass ich gelogen hätte! Ich war sprachlos. Dabei hätte Dieter Hoeneß sagen müssen: »Liebe Fans, es war mein Wunsch, dass ihr nichts erfahrt.« Stattdessen hat er zugesehen, wie ich aus Berlin hinausgeprügelt wurde. Ich habe Drohbriefe erhalten. »Wir kriegen Dich!«, »Wir killen Dich!«. Das ist es, was mir den Fußball versaut hat. Das war mein Genickschuss.


ZEIT: Heute, im Rückblick…


Deisler: …weiß ich, dass ich damals hätte aufhören müssen. Ich wollte nicht mehr. Ich konnte nicht mehr. Ich habe hinter runtergelassenen Jalousien gelebt. Meine Schwester hat damals ihren Beruf als Arzthelferin aufgegeben und ist zu mir nach Berlin gezogen, damit ich jemanden zum Reden habe.


ZEIT: Beim FC Bayern haben Sie in fünf Jahren nur noch 62 Bundesligaspiele bestritten.


Deisler: Ich habe die ersten acht Monate in München gar nicht gespielt. Mein verdammtes Knie. Selbst mein hohes Gehalt hatte damals für mich einen doppelten Boden. Ich habe es auf dem Platz nicht zurückgezahlt. Das haben in der Kabine viele gedacht.


ZEIT: Wissen Sie das, oder vermuten Sie es nur?


Deisler: Ich habe mich nicht getraut, mit denen darüber zu reden. In der Bayern-Kabine Mensch zu sein ist gar nicht so leicht. Das schaffst du nur, wenn du dir sagst: Ich bin der Größte. Du baust dich auf und unterdrückst deine Gefühle. Für mich war München ja ein Neuanfang. Aber in mir war eigentlich nur noch Moder, der immer dunkler und schwerer wurde. Auf der einen Seite waren mein Talent und mein Ehrgeiz. Auf der anderen Seite das Gefühl, zu nichts mehr in der Lage zu sein.


ZEIT: Im November 2003 haben Sie Ihre Depression öffentlich gemacht.


Deisler: Es ging nicht mehr anders. Ich wollte niemanden in der Klinik sehen, noch nicht einmal meine Eltern. Ich war krank. Ich konnte nicht einschlafen, weil ich Angst vor dem Aufwachen hatte. Manchmal hatte ich sogar Angst: Wenn ich einschlafe, wache ich nie wieder auf.


ZEIT: Der damalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, auch Verwaltungsbeirat beim FC Bayern, bezeichnete Sie damals als »eines der größten Verlustgeschäfte« des Vereins.


Deisler: Davon habe ich erst erfahren, als ich die Klinik wieder verlassen hatte. Die Ärzte hatten mir davon abgeraten, den Fernseher anzuschalten. Sie hatten gesagt, ich solle alles Belastende von mir fernhalten.


ZEIT: Was haben Sie in der Klinik über sich gelernt?


Deisler: Ich war ein normaler Fall. Jeder andere wäre auch an den Erwartungen zerbrochen. Vielleicht bin ich sogar zu normal. Vielleicht war das mein Problem.


ZEIT: Es hat dann noch einmal drei Jahre gedauert, bis Sie endgültig aufgegeben haben…


Deisler: Ich habe lange gehofft, dass meine Freude am Spiel selbst so groß ist, dass ich alles andere wegdrücken kann. Aber das ging nicht. Ich bin nie mehr Teil des Ganzen geworden, ich war so weit weg von der Mannschaft.


ZEIT: Felix Magath, der damals Ihr neuer Trainer wurde, sprach nach Ihren guten Spielen von »Euphoriefußball«, nach schlechten von »Kopfproblemen«. Waren das treffende Urteile?


Deisler: Mein Eindruck war, dass Magaths Philosophie damals auf Angst gründete, auf Macht. Er misstraute den Spielern. Er schürte Angst, damit sie sich den Arsch aufrissen. Das habe ich aber sowieso gemacht. Ich – und andere auch – hätte Zuspruch gebraucht. Für einen Trainer, der in Zeiträumen von ein bis zwei Jahren denkt, ist das, was Magath gemacht hat, vollkommen richtig. Ein Spieler, der fünf oder zehn Jahre dabei sein will, kann darunter leiden.


Nach seiner Rückkehr aus der Klinik kann sich Sebastian Deisler aus dem Strudel von alten Ängsten und immer neuen Verletzungen nie mehr richtig befreien. Schubweise kehrt die Depression zurück. Felix Magath wechselt ihn spät ein oder früh aus – Deislers Können blitzt nur dann noch auf, wenn der Trainer ihn unangekündigt aufstellt, regelrecht ins Spiel wirft, sodass Deisler keine Zeit hat, Beklemmungen zu bekommen. Hin und wieder gelingen ihm großartige Spiele. Die Zuschauer freuen sich über jede Minute, die Deisler auf dem Rasen steht, wieder hoffen sie. Jürgen Klinsmann, der neue Bundestrainer, verspricht ihm die Teilnahme an der WM 2006. Dann verletzt sich Deisler erneut am Knie.


Am Mann, der einmal mithelfen sollte, den deutschen Fußball zu retten, läuft das Spiel nun vorbei. Die neuen Stars heißen Poldi und Schweini, der Kapitän der Nationalelf heißt Ballack.


»Er ist einer der besten Spieler, die es in Deutschland je gegeben hat. Deswegen ist das so unverständlich. Aber diesen Kampf haben wir verloren«


Uli Hoeneß, Manager des FC Bayern München, 2007 über Deislers Rücktritt


»Für mich ist es die größte Enttäuschung, dass es uns nicht gelungen ist – und da meine ich alle in Deutschland –, Sebastian Deisler beim Fußball zu halten«


Jürgen Klinsmann, ehemaliger Bundestrainer, 2007


Mehrfach vertraut sich Deisler dem Bayern-Manager Uli Hoeneß an. Die beiden reden nächtelang. Anfang 2007, beim Trainingslager in Dubai, schläft er nach einem dieser Gespräche in Hoeneß’ Hotelzimmer ein. Am 16. Januar 2007, elf Tage nach seinem 27. Geburtstag, erklärt er auf einer Pressekonferenz seinen endgültigen Rücktritt und verschwindet vom Vereinsgelände, ohne sich von seinen Mitspielern zu verabschieden.


ZEIT: Es heißt, nach Ihrem Abgang hätten Sie noch nicht einmal auf E-Mails Ihrer Mannschaftskollegen geantwortet.


Deisler: Wissen Sie: Einige haben mich hinter vorgehaltener Hand »die Deislerin« genannt. Die konnten mich nicht mehr ertragen. Und ich konnte damals auch ein paar Gesichter nicht mehr sehen. Ich habe bis heute niemandem zurückgeschrieben.


ZEIT: Bedauern Sie das nicht?


Deisler: Es macht mich ein wenig traurig. Es gab einige Spieler, die ich mochte, vor allem die Südamerikaner, aber auch Kollegen wie Philipp Lahm und Jens Jeremies. Ich wollte aber einfach nur noch weg. Ich konnte nicht mehr.


Stunden sind vergangen, Sebastian Deisler steht einige Male auf, als wolle er gehen, setzt sich dann aber wieder hin. Seine Mimik und seine Gesten sind spärlich, mal hebt er den Daumen, mal zieht er entschuldigend die Schultern hoch, als sei ihm ein Fehlpass unterlaufen. Wie ist es dazu gekommen, dass aus Ballack ein Weltstar wurde, aus Deisler aber ein Frührentner des Fußballs? Dass Magath als Meistermacher durch das Land reist, während Deisler wieder nach Hause gezogen ist?


Im Kern geht es um die Frage, wie sehr es sich bei Deislers Geschichte um das Einzelschicksal eines sensiblen Menschen handelt und wie sehr um eine Parabel auf die menschenfressende Gier des Sportbusiness. Die größtmögliche Wucht öffentlichen Interesses schien ausgerechnet den verwundbarsten Menschen getroffen zu haben. Am Ende seiner Karriere stehen 135 Erstligaspiele, 36 Länderspiele, null WM-Teilnahmen.


Es ist Nachmittag geworden, Deisler steigt in einen silberfarbenen BMW und steuert den Wagen aus der Stadt, in Richtung Schwarzwald. Hinter dem Fahrersitz liegt ein Basketball, im Radio läuft SWR3. Deisler fährt defensiv, er bremst für jedes Auto, das in den Verkehr einfädeln will. Schließlich ist er am Ziel. Ein Waldweg durch das Simonswälder Tal, daneben fließt die Wilde Gutach. Ein friedlicher Bach unter mächtigen Eichen.


ZEIT: Trotz allem, Herr Deisler: Was am Fußball haben Sie geliebt?


Deisler: Das Spiel mit den Stürmern. Dieses Rotieren, durch das sich in jeder Sekunde neue Konstellationen ergaben. Ich hatte auch Gänsehaut, wenn 60.000 im Stadion meinen Namen riefen.


ZEIT: Gibt es so etwas wie Ihr schönstes Spiel?


Deisler: Ein Sieg gegen Stuttgart, damals bei Hertha. Ich habe kein Tor geschossen, das brauchte ich nicht zum Glück. Toll war: Das Spiel lief wie von alleine. Ich war eins mit ihm. Es kam zu mir.


ZEIT: Gab es ein Duell, das Sie als besonders intensiv empfunden haben?


Deisler: Auch gegen Stuttgart, wieder für Hertha. Mir stand Zvonimir Soldo auf den Füßen, der ist heute ja Trainer in Köln. Irre erfahren und abgeklärt. Und ich mit meiner jugendlichen Spielweise immer gegen ihn an, wie ein junger Stier. Keiner von uns beiden hat gewonnen damals. Aber es hat Spaß gemacht. Ich glaube, ihm auch.


ZEIT: Die Videoplattform YouTube ist voller hinreißender Tore von Ihnen. Ist darunter eines, auf das Sie besonders stolz sind?


Deisler: Da muss ich überlegen. Gegen Leverkusen, in Berlin. Von rechts, aus vollem Lauf, ganz spitzer Winkel, über den Torwart drüber. Der Ball klatscht an den langen Pfosten und ist drin. Herrlich.


ZEIT: Haben Sie nach Ihrem Rücktritt jemals wieder Fußball gespielt?


Deisler: Ein Mal. In Nepal. Wo mich niemand kannte.


ZEIT: Aber Sie haben noch einen Fußball?


Deisler: Ja.


ZEIT: Auch Fußballschuhe?


Deisler: Nein.


ZEIT: Sind Sie je wieder im Stadion gewesen?


Deisler: Nein.


ZEIT: Aus Sorge vor den Menschen, die Sie wiedererkennen, oder vor dem Spiel, das noch immer Ihres sein könnte?


Deisler: Weil ich noch nicht so weit bin. Und weil der Fußball, der mir fehlt, ein anderer ist als der, den ich verlassen habe.


ZEIT: Können Sie Fußball im Fernsehen ertragen?


Deisler: Ich schaue immer noch mit Wehmut. Aber ich kann wieder gucken.


ZEIT: Hatten Sie eigentlich einen Plan für den Tag nach Ihrem Rücktritt?


Deisler: Ich hatte nichts. Ich wusste noch nicht einmal, ob ich eine Zukunft habe. Ich habe damals auch meine Familie verloren, Eunice und unseren gemeinsamen Sohn. Nichts hat mehr gestimmt. Ich habe damals in München in den letzten Monaten meiner Karriere die Schwere mit nach Hause gebracht. Das hat unsere Beziehung erdrückt. Mein Sohn und seine Mutter sollten aber nicht mehr mein Leiden mitleiden. Eunice ist eine großartige Frau. Sie hat mir geholfen, ans Leben zu glauben. Aber ich wollte sie nicht mehr mit meiner Last beschweren. Ich saß in Berlin in meiner alten Wohnung. Wenn ich Hunger hatte, habe ich den Lieferservice bestellt. Anfangs hatte jeder Tag 30 Stunden – und dann war erst Nachmittag. Irgendwann bin ich dann nach Thailand geflogen.


ZEIT: Einsames Hotel, Wanderschuhe, Rucksack?


Deisler: So weit war ich damals noch nicht, dass ich mich mitten in die Pampa getraut hätte. Ich war in einem guten Hotel an der Küste. Habe in den Sonnenuntergang geguckt und nichts empfunden. Später in Nepal ging es etwas besser. Ich komme seitdem langsam auf die Beine, meine innere Sicherheit kommt wieder. Ich möchte mein Leben wieder in Angriff nehmen und mir etwas aufbauen. Ein normaler Mensch werden.


ZEIT: Wie geht das: normal sein?


Deisler: Das geht so, dass ich bald mein Auto ummelde, es hat noch ein Berliner Kennzeichen. Ich gehe zum Straßenverkehrsamt, ziehe eine Wartenummer, setze mich und warte, bis ich dran bin. Das tut mir irgendwie gut. Ich warte auf ein Kennzeichen mit LÖ für Lörrach.


ZEIT: Haben Sie einen Wecker?


Deisler: Ja.


ZEIT: Wann klingelt der?


Deisler: Um neun.


ZEIT: Treiben Sie Sport?


Deisler: Nicht viel. Manchmal gehe ich joggen. Aber Sie sehen ja: mein Bauch.


ZEIT: Wann haben Sie sich zuletzt selber gegoogelt?


Deisler: Vor zwei Tagen. Ich wollte schauen, ob schon was über mein Buch zu finden ist.


ZEIT: Schauen Sie fern?


Deisler: Hin und wieder.


ZEIT: Solche Sachen wie Germany’s Next Topmodel und Deutschland sucht den Superstar?


Deisler: Ist das jetzt eine Fangfrage? Weil ich Germany’s Next Fußballstar sein sollte? Ich ertrage diese Sendungen nicht. Wie sich die Kinder dort vom Urteil anderer Leute abhängig machen. Sich ihre Demütigungen abholen.


ZEIT: Lesen Sie Zeitung?


Deisler: Vielleicht werde ich das Oberbadische Volksblatt abonnieren. Ich will wissen, ob in der Nachbarstraße Bäume gepflanzt werden sollen. Ich hatte, als ich Profi war, meine Heimat verloren. Nein: Ich habe sie selber gestrichen. Ich dachte, dass ich nie wieder zurückkehren würde. Jetzt sitze ich auf meinem Balkon. Ich werde langsam ruhiger. Ich bin aber noch nicht da, wo ich sein will. Mir fehlt noch ein Viertel des Weges, glaube ich.


ZEIT: Als was würden Sie sich heute bezeichnen? Als Invaliden des Showgeschäfts?


Deisler: Ich habe mich schon so gefühlt. Es gab Phasen, da habe ich mich gefühlt wie 60. Jetzt bin ich bei 40. Ich lebe in den Tag hinein. Ich besuche meinen Vater, meine Mutter, gucke, was so los ist. Ich will nicht mehr jammern. Ich will einfach niemandem mehr gehören. Ich bin froh, dass ich durch meine Zeit im Fußball die finanzielle Freiheit habe, in Ruhe zu schauen, was ich machen möchte. Dafür hat es sich gelohnt. Den Rest betrachte ich als Schmerzensgeld.


ZEIT: Neulich war zu lesen, dass Sie hier in Freiburg einen Laden für Produkte aus dem Himalaya eröffnet haben.


Deisler: Das hat wohl ein Immobilienmakler ausgeplaudert. Es ist ein kleiner Teil von mir. Aber ich werde dort nicht an der Kasse stehen. Ich habe einem Freund für dessen Laden eine Bürgschaft gegeben, falls das Geschäft nicht läuft. Ich unterstütze das im Hintergrund.


ZEIT: Haben Sie Ideen für Ihre Zukunft?


Deisler: Vielleicht mache ich eine Fußballschule auf, hier in der Nähe. Einen Ort für Kinder und Jugendliche, die Spaß haben an diesem Sport. Diese Schule würde ich zu meinen Bedingungen führen, ohne Drill und ohne den Anspruch, kleine Helden hervorzubringen. Ich will endlich eine schöne Geschichte vom Fußball erzählen. Ich könnte jungen Spielern auch meine eigene Geschichte erzählen. Die Geschichte von dem schmächtigen Kind, das der Welt beweisen wollte: Ich komme oben an. Ich war der Kleinste und wollte es den Großen zeigen.


ZEIT: Was würde der Sebastian Deisler von heute dem 15-Jährigen von damals raten?


Deisler: Dass er länger zu Hause bleibt. Dass er schon probiert, Fußballprofi zu werden, aber später, mit einem Fundament. Ich hätte mich mit weniger zufriedengeben sollen.


ZEIT: Waren Sie nicht stark genug, um sich Ihre Schwächen einzugestehen?


Deisler: Ich war nicht schwach. Ich war zu sensibel für das große Fußballgeschäft. Man muss härter sein als ich, schreiben Sie das ruhig. Das ist die Wahrheit. Und trotzdem habe ich immer weitergemacht. Ich hatte sieben Operationen! Und ich bin sieben Mal wieder aufgestanden! Sieben Mal!


Über den Schwarzwaldhügeln senkt sich die Herbstsonne, Sebastian Deisler sitzt im »Märchencafé« in Simonswald und isst ein Stück Käsesahnetorte. Er sagt, gleich müsse er los. Er hat nichts mehr vor, aber er mag nicht mehr reden.


Was ist die Lehre dieses Tages? Dass das Fußballgeschäft hart ist, sehr hart. Dass es Helden für eine Show braucht. Dass die Show wichtiger ist als der Fußball.


Er hat Dinge gesagt, die jeder weiß, über deren Folgen aber niemand nachdenkt. Er hat der Welt keine neue Erkenntnis zu bieten, aber einen Haufen Nachdenklichkeit. Was könnte von ihm bleiben, wenn er gleich aufbricht, um sich mit einem Buch endgültig aus dem Spiel zu nehmen? Von Sebastian Deisler, 29 Jahre alt, ledig, einem Fußballer ohne Trikot, einem Mann ohne Frau, einem Jahrhunderttalent im falschen Jahrhundert, einem Spielmacher abseits des Spielfeldes, einer Medienfigur, die die Medien fürchtet.


Deisler hat sich auf dieses Gespräch mit der ZEIT lange vorbereitet. Er hat sich für zwei Tage einen Coach genommen. Er wird noch einmal im Fernsehen auftreten, bei Stern TV mit Günther Jauch. Er will seine Zukunft sichern, indem er ein letztes Mal über seine Vergangenheit spricht. Er will sich der Öffentlichkeit erklären und hat zugleich Angst vor ihr. Im Geiste ist er sein ganzes Leben noch einmal durchgegangen, er wollte diesmal nichts falsch machen.


ZEIT: Herr Deisler, was machen Sie mit einem Fußball zu Hause, wenn Sie nicht spielen?


Deisler: Er liegt bei mir in der Wohnung auf dem Boden. Der Fußball ist Teil meines Lebens. Aber jetzt nützt er mir nichts. Jetzt will ich erst einmal vollständig gesund werden. Ohne dass mir jemand Druck macht. Auch kein Ball. Ich wünsche mir, dass man das akzeptiert und respektiert. Ist das zu viel verlangt?

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Stefan Willeke


Stefan Willeke hat Geschichte und Politik studiert. Seit 1996 arbeitet er bei der Wochenzeitung Die Zeit in Hamburg. Er hat zwei Mal den Kisch-Preis und einmal den Nannen-Preis gewonnen.

Henning Sußebach


Henning Sußebach wurde geboren 1972 in Bochum. Studium der Journalistik an der Universität Dortmund, von 1995 bis 1997 Volontär bei der Berliner Zeitung, von 1998 bis 2001 Redakteur bei derselben. Seit 2001 Redakteur der ZEIT. 2006 und 2007 ausgezeichnet mit dem Henri Nannen Preis.
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Man muss härter sein

erschienen in:
Die ZEIT,
am 01.10.2009

 

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